#ZUKUNFT SCHMECKT + + + Aktuelle Mitteilungen des Lebensmittelverband e.V. + + + + Faktencheck Gesetzesvorhaben Regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen bei Frauen- und Kinderärzten, objektive, zielgruppenspezifische und mehrsprachige Ernährungsbildung für Kinder und Eltern ab Kita-Alter, kostenfreie und für jeden zugängliche Bewegungsförderung, eine breite Produktvielfalt für jeden Lebensstil – es gibt viele Stellschrauben, an denen nachhaltig und zielführend gedreht werden kann, um Übergewicht bei Kindern einzudämmen. Werbeverbote gehören nicht dazu. Der Lebensmittelverband hat sich die Aussagen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zum „Gesetzesvorhaben für mehr Kinderschutz in der Werbung“ genauer angeschaut. 1. Behauptung: Es geht um Werbung für Lebensmittel, die einen hohen Zucker-, Fett- und/oder Salzgehalt haben. Fakt: Nein, es wären ca. 70 Prozent (!) aller auf dem Markt befindlichen Produkte von dem Werbeverbot betroffen. Das Problem sind die hier vom BMEL zu Grunde gelegten WHO-Nährwertprofile. Die von der Weltgesundheitsorganisation 2015 veröffentlichten Nährwertprofile für Europa („WHO Regional Office for Europe nutrient profile model“) teilen das Lebensmittelangebot anhand Kategorieabhängiger Höchstgehalte für ausgewählte Nährstoffe (Gesamtfett, gesättigte Fettsäuren, Gesamtzucker, zugesetzter Zucker, Salz), der Verwendung von Süßungsmitteln und z. T. auch dem Energiegehalt in vermeintlich „gute“ (im wesentlichen unverarbeitetes Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte, unverarbeitetes Fleisch und Fisch) und „schlechte“ (nahezu alle anderen) Lebensmittel ein. Die Bezugsgröße für die Höchstgehalte ist dabei unabhängig von der üblichen Verzehrmenge immer 100 Gramm eines Lebensmittels. Bestimmte Lebensmittelgruppen sind per se, d. h. ganz ohne Höchstgehalte, von der Bewerbung ausgeschlossen. 2. Behauptung: Es ist nur Werbung betroffen, die sich an Kinder richtet. Fakt: Nein, denn schaut man sich die Auflistung der betroffenen Inhalte/Formate an, stellt man fest, dass es sich um ein nahezu vollständiges Werbe- und Sponsoringverbot handelt. In der Pressemitteilung des BMEL (Nummer 24 vom 27. Februar 2023) heißt es: „Zudem soll Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- oder Salzgehalt nicht mehr zulässig sein, wenn sie Kinder zwar nicht nach Art, Inhalt oder Gestaltung, jedoch aufgrund des Werbeumfeldes oder des sonstigen Kontextes adressiert, d. h. • wenn sie zwischen 6 und 23 Uhr betrieben und damit bewusst in Kauf genommen wird, dass sie regelmäßig insbesondere auch von Kindern wahrgenommen wird bzw. wahrgenommen werden kann […] 3. Behauptung: Die WHO-Nährwertprofile sind europäisch eingeführt und praxiserprobt. Fakt: Falsch, die WHO-Nährwertprofile sind nicht Bestandteil verbindlicher europäischer Regulierung und Gesetzgebung. Sie werden bisher in modifizierter Art 42 MAGAZIN 2 2023
#ZUKUNFT SCHMECKT + + + + + + Aktuelle Mitteilungen des Lebensmittelverband e.V. für mehr Kinderschutz in der Werbung in Portugal als einzigem Land eingesetzt, es liegen jedoch noch keinerlei Ergebnisse und Beobachtungen dazu vor, so dass man auch nicht von einer Praxiserprobung sprechen kann. 4. Behauptung: Die Wirtschaft argumentiert, dass Werbung keine Effekte habe. Fakt: Falsch. Der Lebensmittelverband argumentiert, dass keine belastbaren wissenschaftlichen Untersuchungen zur Wirksamkeit der Werbebeschränkungen auf die Gesamternährung und die Entwicklung von kindlichem Übergewicht existieren. Zu diesem Ergebnis kommt übrigens auch die wissenschaftliche Behörde des BMEL, nämlich das Max Rubner-Institut (MRI), das letztes Jahr laufende und geplante nationale Werberegulierungsmaßnahmen in 17 europäischen Ländern sowie entsprechende Evaluations- und Wirksamkeitsstudien analysiert hat. Das Fazit: Im Rahmen der Recherche konnten keine belastbaren Wirksamkeitsstudien identifiziert werden. 5. Behauptung: Lebensmittelwerbung hat einen nachhaltigen Einfluss auf das Ernährungsverhalten bei unter 14-Jährigen. Fakt: Die Behauptung ist irreführend. Nach einer kürzlich von der WHO in Auftrag gegebenen systematischen Überprüfung und Metaanalyse wurde zwar ein signifikanter Unterschied bei der Nahrungsaufnahme und der Nahrungsmittelpräferenz festgestellt, allerdings mit einer sehr geringen Beweissicherheit. Außerdem handelt es sich bei den Studien meistens um experimentelle Laborstudie. Dies bedeutet, dass im Labor Unterschiede gefunden werden können, die sich nicht eins zu eins auf das reale Leben übertragen lassen, da es viele andere Faktoren gibt, die für den Lebensmittelkonsum (und letztlich den Ernährungszustand) relevanter sind als das Marketing, wie z. B. Gewohnheiten, Preis, Zugänglichkeit und Wissen. 6. Behauptung: Der übermäßige Verzehr hochverarbeiteter Lebensmittel mit zu viel Zucker, Fett oder Salz trägt zur Entstehung von Übergewicht und ernährungsmitbedingten Erkrankungen, wie z .B. Adipositas und Diabetes bei. Fakt: Die Behauptung ist irreführend! Diese Aussage stützt sich zumeist auf beobachtende Korrelationsstudien, die aufgrund ihrer Methodik, wie z. B. ihrer Anfälligkeit für Verzerrungen aufgrund von nicht im Studiendesign berücksichtigten Lebensstilfaktoren, keine Kausalität feststellen können. Die einzige experimentelle Studie zum Thema hat auch methodische Limitationen, was es unmöglich macht, zu verallgemeinern. Davon abgesehen gilt für alle Lebensmittel, dass man diese nicht im Übermaß verzehren sollten („Die Dosis macht das Gift“), da eine einseitige Ernährung generell zu Nährstoffdefiziten führen kann. Der Begriff „hochverarbeite Lebensmittel“ ist zudem rechtlich nicht definiert. Auch in der Wissenschaft gibt es keinen Konsens über ein Klassifizierungssystem für Lebensmittel nach dem Verarbeitungsgrad. 7. Behauptung: Werbeverbote funktionieren. Fakt: Die Behauptung ist irreführend! Richtig ist, dass es Untersuchungen gibt, wonach sich das Kaufverhalten bestimmter Produkte durch Werbeverbote verschoben hat bzw. gesunken ist. Allerdings sagt das Kaufverhalten noch nichts über die Übergewichtsentwicklung aus, die als Zielgröße für die Maßnahme „Werberestriktionen“ ge- nannt wird. In Großbritannien beispielsweise gibt es bereits seit mehr als 15 Jahren Werbeverbote und die Übergewichts- und Adipositasraten sind dadurch nicht gesunken. Daten aus dem Jahr 2021/2022 des National Child Measurement Programm zeigen beispielsweise, dass fast 38 Prozent der zehn- bis elfjährigen Kinder übergewichtig sind, 23 Prozent davon sogar adipös. Das britische „Impact Assessment“ aus 2021 zeigt zudem, dass die unmittelbar durch Werberegulierungen zu erwartende Kalorienreduktion bei ca. zwei Kilokalorien pro Tag und Kind liegt – also weniger als eine Schokolinse pro Tag. Zum Schluss der Hinweis: Werbung findet nicht im rechtsfreien Raum statt, besonders dem Schutz der Kinder wird Rechnung getragen. Zudem gelten die Verhaltensregeln des Deutschen Werberats. Diese umfassen unter anderem das Verbot einer direkten Kauf- und Konsumaufforderung. Auch Werbung, die den Eindruck erweckt, der Verzehr eines bestimmten Lebensmittels sei für eine ausgewogene Ernährung unersetzlich, ist zu unterlassen. Ebenso sind Inhalte und Darstellungen verboten, die dem Erlernen eines gesunden, aktiven Lebensstils entgegenwirken. fng-magazin: Der Markenmonitor für den Lebensmittelhandel 43
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